Gastbeitrag: Von den Bäumen lernen
Gastbeitrag: Von den Bäumen lernen

Gastbeitrag: Von den Bäumen lernen

Stress! Kaum ein Wort sonst beschreibt die Kehrseite unseres modernen Lebens so treffend. Schon allein zwischen den kurzfristigen Problemen der jüngsten Zeit ist es leicht, den Überblick zu verlieren. Wie schön ist es dann, wenn man bei einem Waldspaziergang auf andere Gedanken kommen kann. Der Gang unter das Blätterdach kann sogar tatsächlich Stress abbauen und messbar
die Gesundheit fördern. In Hasseldieksdamm gibt es das Wildgehege und den Hofholz, welche zu wunderschönen Spaziergängen einladen. Doch die Wirkung des Waldes wird noch tiefer, wenn wir bereit sind, genau hinzuschauen. Denn von den Bäumen können wir lernen, die stressauslösenden, großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.

Bäume wissen: Gemeinsam geht es besser. Denn allein sind sie kein Wald mit lokal ausgeglichenem Klima, allein sind sie Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt. Erst viele Bäume gemeinsam können ein Ökosystem bilden, das Hitze und Kälte abmildert, ein eigener Wasserspeicher ist und beständig die Luft befeuchtet. Im Schutz der Waldgemeinschaft können Bäume uralt werden. Zum eigenen Wohlergehen muss die Gemeinschaft also unbedingt erhalten bleiben. Egoismus würde dazu führen, dass viel mehr Bäume nicht alt würden, denn ständige Todesfälle würden große Löcher ins Kronendach reißen, durch die leicht Stürme hineinblasen und weitere Stämme umstürzen könnten. Im Hochsommer würde die Hitze bis auf den Waldboden vorstoßen und diesen austrocknen. In der Folge würden alle leiden. Deshalb unterstützen sie benachbarte, notleidende Bäume über ein dichtes Wurzelgeflecht mit ihren Nährstoffen, obwohl sie ohne Nachbarn
kurzfristig mehr Wasser und Licht für das eigene Wachstum abgreifen könnten.

Das Maximieren des beruflichen und finanziellen Erfolgs sowie das Optimieren von Körper und Freizeit als gängige Lebensziele unserer Gesellschaft führen zu einer Individualisierung,
bei der Umschauen und Unterhaken als Bremsen verstanden werden. Doch wie will ein Einzelner den klimaanpassenden Umbau der Stadt schaffen, die ihm auch außerhalb einer gekühlten Wohnung Lebensqualität bieten soll? Wie kann man selbstbestimmt alt werden, wenn einem das nachbarschaftliche Netzwerk fehlt? Wie soll einer Sicherheit für seinen Lebensunterhalt
und das Eigentum finden, wenn man allein ungefesselten Mächten eines globalen Kapitalismus gegenüber steht?

Auch Gärtnerinnen und Förster denken oft an das maximale Wachstum des einzelnen Baums, wenn sie befürchten, dass verschiedene Exemplare zu dicht beieinander stehen und sich so behindern könnten. In ungestörten Buchenwäldern jedoch kann man beobachten, dass alle Bäume die gleiche Fotosyntheseleistung erbringen, obwohl sie an völlig unterschiedlich
(un-)günstigen Plätzen wachsen müssen. Sie produzieren pro Blatt ähnliche Mengen Zucker und gleichen sich dann unterirdisch aus. Auch wenn die Kronen so klein bleiben, ist Gruppenkuscheln erwünscht, denn der Wald ist insgesamt produktiver. Ein deutlich größerer Jahreszuwachs an Holz zeigt, dass sich die Nährstoffe und das Wasser zusammen optimal unter allen verteilen lassen, sodass erst in der engen Gemeinschaft jeder Baum zur Höchstform auflaufen kann.

Zusammenhalt und Nachhaltigkeit gehören zueinander wie die verschlungenen Stämme einer Doppeleiche, die Solidarität heißt. Sie schafft die Gewissheit, gegen alle persönlichen Unwägbarkeiten durch die großen Wandlungen der Globalisierung und der Digitalisierung gewappnet zu sein. Die wechselseitige Unterstützung schafft Mut und Macht zur Veränderung. Die Bäume lehren uns: Wir brauchen eine Politik, die Solidarität als Grundsatz ihres Handelns und Strebens versteht!

Text: Christoph Beeck

Foto: Fabian Winkler